Strukturierte Schwerelosigkeit
60 Jahre « Kind of Blue»
von Milena Tebiri 

 

 

Die vor 60 Jahren erschienene Jazzplatte Kind of Blue gilt bis heute als Meisterwerk. Grund genug, sie aus der Plattensammlung hervorzusuchen, abzustauben und aufzulegen. Oder die neuere Version auf CD zu kaufen. Columbia hat vor zehn Jahren die Aufnahme neu aufgemischt und mit einem Bonustrack (Flamenco Sketches) ergänzt.

 

Damals, im März 1959, lief das Aufnahmegerät während den ersten drei Liedern zu langsam. Fazit: Sie waren zu hoch und somit in der falschen Tonart. Auf der neuen CD sollen diese Mängel behoben und auch die Tonqualität aufgebessert worden  sein. Und in der Tat klingt die bearbeitete CD gegenüber der flacheren Originalversion warm und voll. Nur waren die Solisten Miles Davis (tr), Cannonball Adderley (as) und John Coltrane (ts) im Original wirklich so dominant und vordergründig, dass zum Beispiel bei So What das subtile Piano von Bill Evans kaum zu hören ist?

 

 

Kühle Luft
Die sechs Jahrzehnte lösen sich in Luft auf, wenn sich Miles Davis’ klare Trompete beim ersten Track So What von einem Ton zum nächsten schwingt und er seine typischen Pausen einlegt, um zwischen den Noten zu schweben, während Paul Chambers die dorische Tonleiter abläuft und Bill Evans seine fast scheuen, dafür wohl überlegten Akkorde setzt. Das Thema dieses Songs ist simpel, das ganze Lied baut auf der dorischen Tonleiter auf, die im Mittelteil um einen Halbton erhöht wird. Die Absicht, gewisse Töne bewusst auszulassen, um das modale Konzept nicht zu brechen, wird vor allem bei Miles Davis und Bill Evans deutlich. Schlagzeuger Jimmy Cobb, für den diese Aufnahme den Start seiner Karriere bedeutete, akzentuiert dezent, wo ein Akzent hingehört, nicht zu laut und nicht zu viel. Cannonball Adderley, noch stark vom Bebop geprägt, fällt mit seiner Ungeduld etwas aus dem Rahmen, er presst die Töne heraus, hastig, fast hitzig ist seine Artikulation. Im Gegensatz zu Miles Davis’ gelassenem, luftigen Ansatz, der bei All Blues fast sphärisch klingt. John Coltrane wiederum zeigt keine Angst vor chromatischen Läufen und mutigen Sprüngen, seine Töne klingen präsenter, reifer, als die des stürmischen Altsaxofonisten. Bill Evans, der frühere Pianist des Sextetts, trägt stark zu der einzigartigen Stimmung von Kind of Blue bei. Einzig beim Blues Freddie Freeloader, spielte Wynton Kelly, der eigentliche Pianist der damaligen Band.

 

 

Viel Charisma, etwas Plagiat?
Bill Evans’ Sensibilität lässt ihn im gesamten Klangbild von Kind of Blue fast untergehen,  auch wenn sich die Musiker zurückhalten und meistens behutsam spielen. Er bildet das leiseste Glied in der Kette und das auch, was seine Arbeit als Komponist angeht. So schreibt er im Booklet der CD zwar, Blue in Green, wie auch die anderen Lieder, seien von Miles Davis komponiert. Offiziell ist aber noch immer unklar, ob nicht Bill Evans der eigentliche Komponist des Liedes ist. Komponist Earl Zindars, der lange mit für Bill Evans zusammengearbeitet hatte, sagte 1993 in einem Interview in der Zeitschrift A Letter from Evans, dass Bill Evans zu 100% der Komponist sei. Bill Evans hätte den Song bei ihm geschrieben und die sechs Akkorde die ganze Nacht über immer wieder gespielt. Warum der Pianist Miles Davis die Rechte überlassen hat, bleibt offen. Scheinbar soll Miles Davis ihm 25 Dollar dafür bezahlt haben.

 

Energie der Unmittelbarkeit
Bei einem Film gilt der erste Take oft als der beste. Die SchauspielerInnen agieren intuitiv. Genauso verhält es sich mit Kind oft Blue. Die Musiker improvisierten aufgrund vager Skizzen, die Miles Davis ein paar Stunden vor der Aufnahme aufgeschrieben hatte. Von jedem Lied wurde eine Aufnahme gemacht, die auch gleich die definitive blieb. (Ausser Flamenco Sketches) Die Platte lebt von der Energie der Unmittelbarkeit – auch noch nach 60 Jahren.